Ein bizarres Phänomen, das jeder beobachten kann, der offenen Auges durch die Welt geht, ist das des verlorenen einzelnen Schuhs. Da liegt ein einzelner Schuh in der Weltgeschichte. Vom Besitzer weit und breit nichts zu sehen. Wie ist dieser Schuh dahin gekommen? Wem gehörte er? Und wenn das, was vom Wagen fällt, dem gehört, der dem Wagen folgt – wem gehört er dann jetzt? Wie konnte dieses Kleidungsstück verloren gehen? Ein Taschentuch kann man verlieren, ein Feuerzeug, einen Schlüsselbund, Schal, Handschuhe – aber einen Schuh?! Das ist fast so, als verlöre man seine Unterhose. Soll ich ihn ins Fundbüro bringen? Ist da jemand aus den Latschen gekippt?
Gorges d’Infernet 2010
Ich beobachte diesen Sachverhalt schon einige Zeit. Und weil jedes dieser Artefakte eine Geschichte hat und erzählt, habe ich angefangen, sie zu fotografieren. Immerhin geht es bei einer Fotografie auch darum: Um die Geschichte, die das Bild erzählt.
Dortmund-Ems-Kanal ca. km 67.2, 2018
Ich schwöre: Nicht ich lege die Schuhe irgendwo hin, um sie dann zu fotografieren. Sie kommen genau so vor die Linse und auf den “Film”, wie ich sie vorfinde. Manche Tage sind sehr ergibig, aber ich konnte noch kein Muster dabei feststellen. Meine Hypothese war, dass man nach einem sonnigen Wochenende in der Nähe einer Party-Stelle mehr finden kann. Das kann ich aber nicht ausreichend belegen. Manchmal habe ich eine Intuition, fahre einen kleinen Umweg und – schupps – wieder ein Schuh. Fast scheint mir, als fände der Schuh mich.
Dortmund-Ems-Kanal, Münster 2018
Bisher habe ich nur Männer-Schuhe gefunden, es scheint also eine geschlechtsspezifische Eigenart zu sein. Kinderschuhe ausgenommen. Das rosa Ballerinaschüchen hat das kleine Mädel vielleicht schon immer gehasst. Deswegen hat es es in einem günstigen Moment abgestreift. Mammi hat nichts gemerkt, prima. Zuhause angekommen gibt es keine Schelte, denn nur der Verlust beider Schuhe kann auf Vorsatz beruhen, der bestraft werden muss.
In einer russischen Erzählung, deren Titel und Autor mir leider entfallen ist, wird “berichtet”, dass ein Busfahrer auf einer entlegenen Landstrasse einen Weizenberg rammt. Wutschnaubend stellt er die örtlichen Bauern zur Rede. Die entgegnen, dass erstens es nun mal so sei, weil eine Hydraulik versagt hatte, was letztlich den Berg erzeugte und zweitens alle Sicherheitsmassnahmen ergriffen worden waren, man habe nämlich einen einzelnen Stifel vor die Kurve gestellt, hinter der der Berg sich verbarg, ob er den denn nicht gesehen hätte. Schon vor Jahren habe ich einzelne Schuhe in Frankreich beobachtet, ohne sie zu fotografieren.
Weniger beziarr ist es, ein Paar zu finden, das ein paar Meter auseinandergerissen ist – die sind zusammen aus irgendeiner Tasche gefallen und Autos, Hunde, Kleinkinder und sonstwas hat sie mehr und mehr getrennt. Natürlich finde ich immer zuerst den einen und freue mich schon auf eine neue Geschichte. Dann halte ich aber doch Ausschau nach dem zweiten, um sicherzustellen, dass es eine lohnenswerte Geschichte ist.
neben der B51, Münster
Ist der Badelatschen zufällig auf der Bank? Manchmal scheinen Finder seltsame Dinge mit den verlorenen Einzelstücken zu tun …
Haus-Kleve-Weg, Münster 2018
Einige verschwinden schneller, als ich sie ablichten kann.
Ich habe schon etliche Schuhe gesehen und einige fotografiert, aber ich konnte nie beobachten, wie einer verloren ging. Gibt es dazu eine passende Verschwörungstheorie? Und eine Community im Web, die sich dieser Sache annimmt? Vergiß “lost places” und “urban exploring”. Finde “lost shoes” und “fashion exploring” ;)